Nadel und Faden. Transformationen des sowjetischen Kostüms als Spiegel des Wertewandels in der Sowjetunion am Beispiel der individuellen Herstellung von Kleidung (1953-1985)
Ziel der Untersuchung ist es, die Alltags- und Gesellschaftsgeschichte der Sowjetunion aus einer neuen Perspektive zu betrachten: der materiellen Kultur und deren Auswirkungen auf das soziale und kulturelle Leben. Im Zentrum des Forschungsansatzes steht die Frage, wie sich Form, Sinn und Gebrauch von Alltagsdingen unter besonderen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen transformiert. Der Fokus wird dabei auf ein bestimmtes Konsumgut gelegt, die individuell (zu Hause oder bei einer Schneiderin) hergestellte Kleidung. Methodisch erlaubt dieser Zugriff verschiedene Untersuchungsbereiche und mehrere Forschungskontexte zusammen zu führen Kleidungsforschung, Frauen- und Geschlechterforschung sowie Forschung zur Konsumgeschichte. Als roter Faden dient die Gesellschafts- und Alltagsgeschichte der Sowjetunion in den Jahren 1953-1985. Ausgangspunkt ist die Frage, ob die individuelle Herstellung der Kleidung eine Veränderung im alltäglichen Bekleidungsverhalten der sowjetischen Frau ermöglichte, dementsprechend zur Herausbildung einer neuen Konsumentin beitrug und schließlich zur Transformierung gesellschaftlicher Normen führte. Wie kam es zum Individualisierungsprozess im Bekleidungsverhalten? Welche politischen, ökonomischen, ideologischen und kulturellen Gegebenheiten und Normvorstellungen trugen zu dieser Entwicklung bei? Das geplante Projekt knüpft an die Erkenntnisse der neueren Stalinismus-Forschung an, setzt die Entwicklung der Sowjetunion nach Stalins Tod (1953) als zeitlichen Ausgangspunkt und endet mit 1985, dem Ende der Brenev-Ära. Mitte der 1950er Jahre kann ein Wendepunkt in der sowjetischen Konsumpolitik festgestellt werden, der mit politischen und sozialen Transformationen verbunden war. Ausgehend von der Rolle der materiellen Kultur im Spannungsfeld zwischen sowjetischem Dresscode und individuell hergestellter Kleidung und ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung wird nach dem Zusammenhang zwischen dem Konsum und seiner Legitimation einerseits und dem Staat und den gesellschaftlichen Machtbeziehungen andererseits gefragt. Dieser Zugang eröffnet nicht nur neue Perspektiven für die Analyse der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen und Umbrüche der späten Sowjetunion, sondern ermöglicht zudem, die Bedeutungen dieser Prozesse für die (De)Stabilisierung der Herrschaftsstrukturen zu verstehen und womöglich neue Facetten des alltäglichen Lebens zu entdecken, die Verhaltensmuster eines Sowjetbürgers (individuelle Aneignungs- und Abgrenzungsprozesse) veranschaulichen und seine Sehnsüchte und Bedürfnisse sichtbar werden lassen.