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Warum Vergessen für das Erinnern wichtig ist

Um relevante Informationen speichern zu können, muss das menschliche Gedächtnis Irrelevantes wegfiltern. Diese Filterfunktion des Gehirns, die fein säuberlich zwischen wichtig und unwichtig trennt, nimmt im Alter deutlich ab.

Das ist ein Ergebnis der Studie, die der Salzburger Neurowissenschaftler Hubert Kerschbaum über das sogenannte „Gerichtete Vergessen“ durchgeführt hat. Die mangelhafte Filterleistung des Arbeitsgedächtnisses vieler älterer Menschen könnte eine Erklärung für das nachlassende Merkvermögen im Alter sein. Die Studie wurde im renommierten „Journal of Neuroscience Research“ veröffentlicht.

Wer kennt nicht die Situation: Mitten in einem Gespräch wird man unterbrochen und verliert daraufhin, zumindest vorübergehend, den Faden. Der Gesprächsinhalt ist wie weggeblasen. Verdrängt von einer anderen Information. Der Grund: Das Arbeitsgedächtnis, also der Teil des menschlichen Erinnerungsvermögens, der Informationen zwischenspeichert, um sie dann zu bearbeiten, hat eine geringe Kapazität. Um Platz für situationsbedingt relevante Informationen zu schaffen, werden Inputs, die nicht brauchbar erscheinen, gehemmt. Der Fachausdruck dafür ist „Gerichtetes Vergessen“.  

„Gerichtetes Vergessen“ passiert einerseits quasi automatisch, lässt sich anderseits aber auch gezielt steuern. Der Hinweis „Vergiss das“ führt häufig tatsächlich zu einer signifikant geringeren Gedächtnisleistung von zuvor gelernten Informationen, allerdings nur bei jungen Menschen, wie der Biologe und Neurowissenschaftler Hubert Kerschbaum vom Center for Cognitive Neuroscience der Universität Salzburg in seiner jüngsten Studie gezeigt hat. „Wir haben insgesamt 250 Personen getestet. Sie mussten zwei Wortlisten lernen. Dann wurden sie aufgefordert, die Wörter der ersten Liste sich zu merken oder zu vergessen und sich die Wörter der zweiten Liste zu merken. Fazit: Die rund 200 jungen Probanden, männlich und weiblich, vergaßen tatsächlich ungefähr doppelt so viele Wörter von der Vergessens-Liste wie von der Merkliste.“

Ganz anders war das Ergebnis bei den älteren Testteilnehmern bzw. genauer gesagt bei den Testteilnehmerinnen. Ältere Männer wurden nämlich in dieser Studie  nicht untersucht. Bei den 56 getesteten postmenopausalen Frauen hatte die Aufforderung zum Vergessen keinerlei Wirkung. Sie merkten sich die Wörter aus der Vergessens-Liste gleich gut wie die Wörter aus der Merkliste. „Offensichtlich funktioniert im Alter die Filterfunktion des verbalen Arbeitsgedächtnisses nicht mehr gut. Gedächtnisinhalte, die nicht gebraucht werden, werden nicht blockiert“, resümiert Kerschbaum. „Das hat negative Folgen für den Zugriff auf die Gedächtnisinhalte. Die „alten“ und „neuen“ Gedächtnisspuren überlagern sich. Die Gedächtnisinhalte sind nicht gelöscht, aber wir können nicht mehr gezielt auf einen bestimmten Inhalt zugreifen. Ein Stichwort genügt meistens, und wir können das Gespräch fortsetzen“.

So ergibt sich die scheinbar paradoxe Situation, dass sich ältere Menschen Dinge schlechter merken und im Vergleich zu früher größere Probleme haben, neue Dinge wie eine Fremdsprache zu lernen. Gleichzeitig haben sie Schwierigkeiten, Informationen zu vergessen, die situationsbezogen nicht länger relevant sind. Diese beiden scheinbar widersprüchlichen Prozesse hängen de facto aber eng zusammen, sagt Kerschbaum. 

Was – außer dem Alter – beeinflusst zudem das „Gerichtete Vergessen“, also die Fähigkeit des Arbeitsgedächtnisses, unbrauchbare Informationen zu hemmen? Könnten Geschlechtshormone eine gewisse Rolle spielen? Dieser Frage ist Kerschbaum nachgegangen. Und in der Tat, es scheint so zu sein. Das unterschiedliche Abschneiden der Probandengruppen legt diese Schlussfolgerung jedenfalls nahe. Junge Männer vergessen, wenn aufgefordert, Unwichtiges am besten. An zweiter Stelle stehen junge Frauen, die die Pille nehmen, knapp danach kommen die Frauen mit einem natürlichen Zyklus. Postmenopausale Frauen hingegen können, wie beschrieben, schlecht filtern.

Auf der Suche nach einem Hormon, bei dem sich ein Zusammenhang mit der Filterfunktion des Gehirns herstellen ließe, hat sich in der Studie Progesteron herauskristallisiert. Für Kerschbaum ist das Ergebnis nicht überraschend. „Aus vorangegangen Studien, die hier an der Universität Salzburg durchgeführt wurden, wissen wir, dass eine Funktion von Progesteron darin besteht, im Gehirn hemmende Netzwerke zu verstärken. Denkprozesse sind ja gekennzeichnet durch erregende und hemmende elektrische Schwingungen in bestimmten Frequenzbereichen. Ohne hemmende Schwingungen käme es zu einer nicht verarbeitbaren Informationsflut. Beeinflusst von Progesteron sorgen hemmende Schwingungen („Alpha-Oszillationen“) für selektive Wahrnehmung, indem sie bestimmte Nervenzellen vorübergehend blockieren. Genau in diese Richtung weist auch unsere Vergessens-Studie“.

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen will Kerschbaum nun in weiteren Studien u.a. mit den modernsten bildgebenden Verfahren (wie beispielsweise fMRI oder MEG Magnetenzephalographie) die Zusammenhänge zwischen dem Hormon Progesteron, bestimmten Gehirnoszillationen und dem „Gerichteten Vergessen“ noch genauer untersuchen. Zudem sollen auch ältere Männern in die Studien einbezogen werden.

Foto: © Kolarik  

Publikation: Hubert Kerschbaum, Ildiko Hofbauer, Anna Gföllner, Birgit Ebner, Nikolaus Bresgen, Karl-Heinz Bäuml: Sex, Age and Sex Hormones Affect Recall of Words in a Directed Forgetting Paradigm. In: Journal of Neuroscience Research 95 (2017)

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