Maria Montessori (1870-1952). Eine neue Monographie entzaubert die Ikone der Reformpädagogik
Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter von der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) zeigt in ihrem vielbeachteten neuen Buch „Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind“, dass die weltweit als Reformpädagogin berühmte italienische Ärztin und Biologin lebenslang rassenideologische und eugenische Ansichten vertrat. Das öffentlich vorherrschende romantisierende Bild Montessoris als kinderliebe Erzieherin lasse sich in ihren anthropologischen Ansichten allerdings nicht finden.
1910 veröffentlichte Montessori ihr wissenschaftliches Hauptwerk unter dem Titel „Antropologia pedagogica“. Darin legte sie ihre anthropologische Gedankenwelt auf 600 Seiten dar. Erst 2019, mehr als hundert Jahre später, erschien das Buch auf Deutsch. Es war für Sabine Seichter, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg, der Anlass, Montessoris geistigen Nährboden zu Erziehungszielen und -methoden anhand ihrer Schriften zu analysieren. Und was sich da zeigte, war kein humanistisches Welt- und Menschenbild, sondern ein rassistisch und eugenisch durchdrungenes, sagt Seichter. Statt Vielfalt zu respektieren, galt Montessoris Aufmerksamkeit der Hervorbringung des perfekten Menschen, welcher ästhetisch vollkommen, körperlich gesund, moralisch und intellektuell vollkommen zu sein hat, so Seichter.
„Leute aus den Reihen der Anhängerschaft Montessoris werfen mir hoch emotionalisiert vor, dass es sich bei jenen unliebsamen Ansichten Montessoris lediglich um einzelne Zitate handle, die man vernachlässigen könne. Dieser Vorwurf ist jedoch nicht haltbar.
Unter Rückgriff auf den höchst normativen Rassenbegriff unterteilt Montessori die Menschen grundsätzlich in „höhere“ und „niedere“ Rassen“, stellt Seichter fest.
Der Rassenbegriff diente der Italienerin dazu, Menschen zu hierarchisieren, zu stigmatisieren und letzten Endes auch zu diskriminieren. „Für Montessori war klar: Die sog. „triumphierende Rasse“ bestehe aus weißen Menschen, deren Staturtyp eine Harmonie der Formen des Körpers aufweise. Nicht zuletzt auf der Grundlage ihrer eigenen empirischen Studien zur Menschenvermessung benennt Montessori Rassenmerkmale und Rassentypen zur Sichtbarmachung und Klassifizierung der „kultvierten“ vs. weniger kultivierten Rassen. Montessoris leitendes (Erziehungs-)Ziel war es, „Kinder einer perfekteren Rasse, einer besseren Menschheit“ (M. Montessori) hervorzubringen, mit deren Hilfe die Welt „gereinigt“ und vor fortschreitender Degeneration bewahrt werden sollte“.
Noch ein Jahr vor ihrem Tod träumte Maria Montessori davon, den perfekten Menschen mithilfe biopolitischer Interventionen hervorzubringen, und führte ihre Ideen zur Errichtung eines „Ministry of the Race“ (1951) aus.
„Maria Montessori ging es nicht um das einzelne individuelle Kind, ihr schwebte vielmehr der Aufbau einer besseren Menschheit vor, genauer gesagt: der sog. weißen Rasse. Alles, was sie tat, zum Beispiel ihr enger Schulterschluss mit dem italienischen Faschismus Benito Mussolinis, passierte, weil sie eine kalkulierte Strategin war, die genau wusste, wie sie sich für die Verbreitung ihrer Gedanken inszenieren musste, von der Kleidung bis zur Rhetorik. Ihr Traum war der Traum vom neuen Menschen, vom perfekten Kind, das sie dann vollmundig als den neuen Messias ankündigte“, so Sabine Seichter.
Vereinzelt hatten Forscher schon vor Jahren auf die problematischen rassenanthropologischen und eugenischen Ansichten Montessoris hingewiesen. Doch die Kritik verhallte damals, weil möglicherweise Personen, die sich mit Montessori beschäftigen, oft zeitgleich Funktionärsposten in der Montessori-Gesellschaft innehaben oder lukrative Montessori-Privatschulen betreiben, mutmaßt Sabine Seichter.
„Das Besondere an meiner Studie ist“, so erläutert Seichter, „dass ich versucht habe, das Denken Montessoris, das auf einem Mix aus Rassenanthropologie, Eugenik, Evolutionstheorie und Sexualhygiene basiert, im geistigen Kontext des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu analysieren. Und was man dabei unweigerlich entdeckt, ist, dass Montessoris Denken nichts mit einer kinderlieben Erzieherin zu tun hat, wie es oft völlig verkitscht dargestellt wird, sondern von einer Naturwissenschaftlerin stammt, die ihre ‚pädagogischen‘ Überzeugungen voll und ganz aus der Rassenanthropologie speist. Und davon ist sie zeitlebens auch nie abgerückt.“
Während im Zuge rassismuskritischer Forschungen der letzten Jahre viele Denker und Denkerinnen früherer Epochen dieser Prüfung unterzogen wurden, sei das bei Montessori bisher ausgeblieben, stellt Sabine Seichter fest und erklärt zu ihrer eigenen Forschungsarbeit: „Ich wollte mit meinem Buch nicht einen Mythos zerstören, sondern – anhand von Montessoris Schriften – einen erhellenden Blick auf die scheinbare Lichtgestalt der Reformpädagogik werfen. Wissenschaftliche Forschung ist der wertfreien Aufklärung verpflichtet, und ich denke, dass diese in der Montessori-Rezeption bis heute vielfach fehlt.“
Und Seichter ergänzt: „Was mein neues Buch und viele Reaktionen darauf zeigen, ist, dass man Maria Montessori anscheinend nicht kritisieren darf. Das wird von ihrer eingeschworenen Anhängerschaft beinahe wie Blasphemie geächtet. Montessori wird im Gegenteil geradezu wie eine Heilige verehrt. Es gibt Wundererzählungen, Erfolgsgeschichten und werbeträchtige Wohlfühlslogans. Dunkle biographische Details wie zum Beispiel, dass sie ihr eigenes Kind weggegeben hat oder dass ihr rassenanthropologisches Denken alles andere als inklusiv war, werden dann gerne ausgeblendet“, so Seichter.
Eine Frage, die zwar nicht Thema von Sabine Seichters wissenschaftlichem Buch ist, die sich bei der Lektüre aber aufdrängt, ist, wie es Eltern in der Praxis mit Montessori-Einrichtungen halten sollen. „Salopp würde ich sagen, man muss eigentlich froh sein, wenn in einer Montessori-Einrichtung nicht viel von jener Montessori drin ist, die ich analysiert habe. Aber wie irrwitzig wäre es dann, wenn man weiter am Label ‚Montessori‘ festhielte. ‚Montessori‘ ist keine geschützte Marke, im Grunde kann jeder unter diesem Label tun und lassen, was er will. Solange es kinderzentriert, kinderlieb, humanistisch-würdevoll daherkommt, scheint es gut zu sein. ‚Montessori‘ ist aber in den letzten Jahrzehnten zu einem Trödelmarkt unbegrenzter und beliebiger Möglichkeiten geworden. Meine Studie macht es sich zur Aufgabe, wieder mehr Licht in die Montessori-Forschung zu bringen und damit auch auf den oft wegretuschierten Schatten Maria Montessoris aufmerksam zu machen“, so die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter.
Fotonachweis: privat
Publikation
Sabine Seichter: „Der lange Schatten Maria Montessoris. Der Traum vom perfekten Kind“ Beltz-Verlag 2024.
Kontakt
Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Sabine Seichter
Allgemeine Erziehungswissenschaft
Fachbereich Erziehungswissenschaft
Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS)
Erzabt-Klotz-Straße 1 | 5020 Salzburg