Die Corona-Maßnahmen und ihre Rechtskonformität. Erste umfassende Untersuchung liegt vor
Salzburger Wissenschaftler um den Verfassungsrechtler Benjamin Kneihs legen nun die erste gründliche Untersuchung zu den verfassungsrechtlichen Implikationen der österreichischen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19 Pandemie vor. Darin wird der Fokus nicht nur auf viel diskutierte Aspekte wie die Ausgangsbeschränkungen gerichtet, sondern auf die gesamte Fülle der Maßnahmen: von der Absage mündlicher Verhandlungen in der Justiz bis zum Besuchsverbot in Krankenhäusern.
Aufgrund der Detailgenauigkeit kann die Arbeit nach Überzeugung der Autoren auch als Richtschnur für die Zukunft gelten. Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Etappe von Mitte März und Ende April 2020. Ein Follow Up ist geplant.
„Wir haben der Versuchung widerstanden, uns tagesaktuell in kurzen Stellungnahmen zu verfassungsrechtlichen Fragen der Covid-19 Beschränkungen in Österreich zu Wort zu melden. Stattdessen wollten wir gründlich sein und die Maßnahmen, die für den Zeitraum zwischen 14. März 2020 und 1. Mai 2020 galten, im europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Gesamtzusammenhang analysieren. Es ist unseres Wissens die erste derartige Untersuchung“, sagt Benjamin Kneihs, Universitätsprofessor für Verwaltungs- und Verfassungsrecht an der Universität Salzburg. Er hat das Projekt „Ausgewählte unions- und verfassungsrechtliche Fragen der österreichischen Maßnahmen zur Ausbreitung des Covid-19-Virus“ in seinem Forschungssemester initiiert und zusammen mit seinen Salzburger Kollegen Reinhard Klaushofer, Rainer Palmstorfer und Hannes Winner durchgeführt. Der Beitrag wurde verfasst, bevor der Verfassungsgerichtshof erste inhaltliche Erkenntnisse zu den von der Regierung beschlossenen Beschränkungen vorgelegt hat.
Die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise wie Grenzkontrollen, Quarantäne für Verdachtsfälle und Infizierte, die allgemeine Ausgangssperre oder Geschäftsschließungen haben neben der Wirtschaft auch die Grundfreiheiten der Europäischen Union, das Schengener Abkommen sowie die Grund- und Menschenrechte massiv eingeschränkt. „Wir haben uns sehr genau mit den Maßstäben für alle Maßnahmen auseinandergesetzt. Natürlich haben wir auch die viel diskutierten Themen wie die Ausgangsbeschränkungen oder die 400 Quadratmeter-Verordnung untersucht, wobei wir diese als gesetzeswidrig befunden haben, so wie dies im Juli 2020 dann auch der Verfassungsgerichtshof getan hat. Darüber hinaus haben wir zum Beispiel auch folgende Beschränkungen im Detail betrachtet: das Besuchsverbot in den Krankenanstalten, die Besuchseinschränkungen in der Justiz, die Absage von mündlichen Verhandlungen in der Justiz und in der Verwaltung oder die Einreisebeschränkungen, wo gleichheitsrechtlich einiges schiefgegangen ist“, sagt Kneihs.
Die empirischen Daten, die den bis Ende April gesetzten Maßnahmen zu Grunde lagen, hat Hannes Winner, Professor für Volkswirtschaftslehre (mit besonderer Expertise in der Gesundheitsökonomie) offen gelegt. Die europarechtlichen Probleme der Covid-19 Maßnahmen, speziell die Wiedereinführung der Grenzkontrollen und die Reisebeschränkungen hat Rainer Palmstorfer, Professor für Europarecht analysiert. Mit den einzelnen Grundrechten und dem Bestimmtheitsgebot hat sich zusammen mit Benjamin Kneihs der Verfassungsrechtsexperte Professor Reinhard Klaushofer auseinandergesetzt.
„Wir haben auf 150 Seiten alles ausgearbeitet; jedes einzelne Grundrecht mit Blick auf die Anforderungen an Eignung, Erforderlichkeit und Adäquanz angesichts einer solchen Pandemie überprüft. Das reicht vom Recht auf die persönliche Freiheit, Stichwort Quarantäne, über das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Freizügigkeit, die Religionsfreiheit bis zur Versammlungsfreiheit und dem Datenschutz“, sagt Kneihs. Deshalb habe die Untersuchung, die sich auf die Maßnahmen zu Beginn des Lockdowns beschränkt, auch darüber hinaus Gültigkeit. „Wir legen die Maßstäbe offen. Und diese gelten auch für künftige Maßnahmen. Der Gesetzgeber wird sich in Zukunft an diesen Maßstäben orientieren müssen. Für die Pandemie im weiteren Verlauf gilt nicht mehr, dass man überrascht und überfordert ist.“
Als besonders bedenklich betrachtet Kneihs Maßnahmen, für welche Regelungen überhaupt gefehlt haben, wie zum Beispiel beim Besuchsverbot in Krankenhäusern. Dieses widerspricht dem im Krankenanstaltengesetz festgelegten Besuchsrecht. Man hätte Besuchsbeschränkungen schon erlassen können, aber erst nachdem ein entsprechendes Gesetz bzw. eine entsprechende Verordnung gemacht worden wäre. Das Gleiche gelte etwa auch für die Universitäten und die dortige Einstellung des Präsenzbetriebs. Bis zur Erlassung der entsprechenden Verordnungen Ende April war die Einstellung rechtswidrig. „Es muss uns alle im Rechtsstaat beunruhigen, wenn der Staat Dinge ohne ordentliche Rechtsgrundlagen verordnet“, so Kneihs.
Er fügt aber hinzu, dass keineswegs der Vorwurf der Leichtfertigkeit oder des schlampigen Umgangs mit dem Rechtsstaat erhoben werden solle. „Angesichts des Ausmaßes der Gefahr, der Unvollständigkeit der Informationen und des enormen Zeitdrucks sind Fehler gemacht worden. Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass wir es schon immer besser gewusst hätten. Das Unionsrecht und die Bundesverfassung gelten allerdings auch in der Krise. Und die Vornahme der massivsten Grundrechtseingriffe seit dem Zweiten Weltkrieg bedarf einer demokratischen Rechtsgrundlage. Die Aussetzung praktisch aller wesentlichen Freiheitsrechte noch dazu auf der Basis dünnster gesetzliche Grundlage ist keine Normalität.“
Bei der Analyse der Maßnahmen haben die Autoren insofern eine Einschränkung vorgenommen, als sie speziell das Bundesrecht betrachtet haben. Landesrechtliche Aspekte mit einzubeziehen, hätte laut Kneihs den Rahmen gesprengt. Es ist ein Follow Up der Untersuchung geplant, in dem die Rechtslage seit dem 1. Mai 2020 auch betrachtet werden soll. Der Beitrag wird in Kürze in der Zeitschrift für öffentliches Recht im Verlag Österreich publiziert. Open Access ist er auf der Seite des Verlags Vorab abrufbar.
Publikation:
Reinhard Klaushofer, Benjamin Kneihs, Rainer Palmstorfer, Hannes Winner: Ausgewählte unions- und verfassungsrechtliche Fragen der österreichischen Maßnahmen zur Ausbreitung des Covid-19-Virus.
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Kontakt:
Univ.-Prof. Dr. Benjamin Kneihs
Fachbereich Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht
Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS)
Kapitelgasse 5-7
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t.: +43 662 8044-3611
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