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Berg-Karabach: Österreicherin gibt Gefallenen einen Namen

Jerewan, 05.10.2020 (KAP) Während die internationalen Bemühungen – bislang erfolglos – um einen Waffenstillstand zwischen Aserbaidschan und Armenien weitergehen, berichtet die österreichische Armenienexpertin Jasmin Dum-Tragut vom menschlichen Leid, das die Kämpfe mit sich bringen und appelliert an die politisch Verantwortlichen auch in Österreich, sich für ein Ende der Kämpfe einzusetzen. Sie habe diesbezüglich auch Schreiben an Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Sebastian Kurz verfasst, so die Wissenschaftlerin.
Dum-Tragut, Leiterin des „ZECO“ (Zentrum zur Erforschung des Christlichen Ostens) der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, hält sich derzeit eigentlich zu einem Forschungsaufenthalt in Armenien auf. Der wird allerdings fast gänzlich vom Krieg überschattet. Immer mehr Männer, junge wie alte, würden zum armenischen Militär eingezogen, und die Zahl der Toten steige, bei den Armeeangehörigen wie auch der Zivilbevölkerung in Berg-Karabach. „Die Information von der Front ist spärlich, es beginnt langsam kalt und regnerisch zu werden. Die Nerven liegen blank, man weiß auch an der Front kaum, was vor sich geht“, berichtete Dum-Tragut am Wochenende auf ihrem Facebook-Account, in dem sie auch das Bangen der Angehörigen der Soldaten thematisiert.
Sie wolle auch den Toten einen Namen geben, erklärte die Wissenschaftlerin: „Hier die Namen und Geburtsdaten einiger der 23 Karabach-Soldaten, die gestern gefallen sind: Hayk geb. 1995, Sergey geb. 1997, Sevak geb. 1998, Sipan, Arshaluys, Gevorg, Artak, Erik, Davit geb. 2001, Serjosha, Manuk und Ishkhan geb. 2002.“
Es werde zunehmend schwieriger, „sich in dem Chaos von Meldungen zurechtzufinden und Wichtiges herauszufiltern“, so Dum-Tragut. Stepanakert, die Hauptstadt von Berg-Karabach, und das ostkarabachische Hadrut seien am Wochenende unter aserbaidschanischem Dauerbeschuss gestanden. „Die aserbaidschanischen Mehrfachraketenwerfer Smertsch aus russischer und Polonez aus weißrussischer Produktion forderte zivile und militärische Opfer“, so Dum-Tragut. Die armenischen Streitkräfte in Karabach hätten andererseits den aserbaidschanischen Militärflughafen in Gandscha beschossen.
Karabachs Präsident Arayik Harutyunyan habe zugleich durch zwei Appelle an die aserbaidschanische Bevölkerung überrascht. Er habe zum einen die Zivilbevölkerung in Aserbaidschan aufgerufen, jene Städte zu verlassen, in denen sich militärische Anlagen befinden, da diese Ziele armenischer Angriffe sein könnten. – Mit diesem Appell wolle er zivile Opfer unter der aserbaidschanischen Bevölkerung vermeiden. Zum anderen rief Harutyunyan die viele ethnischen Minderheiten Aserbaidschans wie iranische Talyschen und Taten, kaukasische Lesgier, Uden, Awaren, Ingiloren, Tsachuren, Rutulen auf, sich nicht an dem bewaffneten Konflikt gegen die Armenier zu beteiligen.
Am Samstagabend fand in Etschmiadzin bei Jerewan, dem Zentrum der Armenisch-apostolischen Kirche, ein Gebetsgottesdienst statt, dem das Kirchenoberhaupt Katholikos Karekin II. vorstand. Dieser habe das Gebet mit einem Zitat aus dem Ersten Brief des Johannes eröffnet: „Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube“. Dum-Tragut: „Tiefe Stille in einer kaum beleuchteten, nur durch unzählige kleine Kerzen erhellten Kirche, gespanntes Zuhören, als ob keiner zu atmen wagte.“
Patriarchen-Aufruf zum Frieden
Unterdessen haben die Patriarchen und Bischöfe von Jerusalem in einer gemeinsamen Erklärung zum Frieden aufgerufen, wie der Pro Oriente-Informationsdienst berichtete. In ihrer Botschaft, die unter anderem vom griechisch-orthodoxen Patriarchen von Jerusalem, Theophilos III., und vom Apostolischen Administrator des lateinischen Patriarchats, Erzbischof Pierbattista Pizzaballa, unterzeichnet wurde, sprechen die Kirchenführer den betroffenen Gemeinschaften ihr Beileid aus und bitten um Gottes Barmherzigkeit. Die Patriarchen und Bischöfe fordern „die europäischen Regierenden, die Präsidenten Russlands und der USA sowie den Generalsekretär der Vereinten Nationen“ auf, „so bald wie möglich einzugreifen“, um „einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen und einen dauerhaften Frieden auszuhandeln“. Weitere Gewalt könne die Spaltung zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan nur vertiefen, heißt es in der Erklärung.
Appell an US-Regierung
Der US-amerikanische ökumenische Rat – der „National Council of the Churches of Christ in the USA“ (NCC) – hat unterdessen den „unprovozierten aserbaidschanischen Überraschungsangriff“ bedauert, der Armenien in einen Kriegszustand versetzt habe. Der NCC betont „in Solidarität mit der armenischen Kirche in den USA, mit dem Weltkirchenrat und so vielen Menschen guten Willens in aller Welt“ seine Empörung und tiefe Bitterkeit über diesen Konflikt. Wörtlich heißt es in der Erklärung: „Wir verurteilen den Gebrauch militärischer Macht durch Aserbaidschan und die syrischen Rebellen, die von der Türkei finanziert sind und in das Krisengebiet entsandt wurden, um den Überfall auf die armenische Gemeinschaft zu unterstützen“.
Der Gebrauch von schwerer Artillerie, Luftwaffe und Drohnen lege nahe, dass es sich um eine geplante Operation handle. Es sei höchste Zeit, dass die Türkei ihre Einmischung beendet und die Beteiligung an den Kämpfen und die Ermutigung zum Krieg stoppt. Der NCC appellierte an die US-Regierung, diplomatische Maßnahmen zur Beendigung der Kämpfe zu ergreifen: „Wir hoffen und beten, dass das State Department in dieser Situation nicht gleichgültig bleibt“.
Kritik an Türkei
Der armenische Regierungschef Nikol Pashinian sagte unterdessen in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung „Bild“, die Türkei sei nach hundert Jahren in die Region Südkaukasus zurückgekehrt, „um den Genozid an den Armeniern fortzusetzen, der von 1915 bis 1923 im Osmanischen Reich stattfand“. Zugleich warf er dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eine imperialistische Politik vor. Diese reiche viel weiter als in den Südkaukasus. „Schauen wir uns das Vorgehen der Türkei im Mittelmeerraum, in Libyen, im Nahen Osten, im Irak und in Syrien an“, so Pashinian.
Armenier in der Türkei in Sorge
Das Wiederaufleben des bewaffneten Konflikts um die Region Berg-Karabach hat besorgniserregende Auswirkungen auf die in der Türkei lebenden Armenier, meldete die katholische Nachrichtenagentur „Fides“. Am Abend des 29. September fuhr ein Auto-Konvoi vor das Gebäude des armenischen Patriarchats von Konstantinopel im Hauptstadtbezirk Kumkapi vor, wobei die Insassen laut hupten und Flaggen von Aserbaidschan und der Türkei schwenkten.
Ömer Celik, Sprecher der Regierungspartei AKP, erklärte, dass der anhaltende Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien keine Konsequenzen für türkische Staatsbürger armenischer Abstammung haben werde. In seiner Erklärung verurteilte der Sprecher die Welle der Beleidigungen und Einschüchterungen gegen Armenier, zu der es auch in den Sozialen Medien kam, nachdem die Wagenkolonne provokativ und mit klarer einschüchternder Absicht vor dem Sitz des Patriarchats vorgefahren war. Celik betonte auch via Twitter, dass die Türkei „keine Diskriminierung zwischen Bürgern“ erlaube.
Patriarchen-Treffen im Phanar
In dem von Besorgnis um die in der Türkei lebenden armenischen Gemeinschaft geprägten Klima stattete der neue armenisch-apostolische Patriarch von Konstantinopel, Sahag II. Mashalian, bereits am 26. September im Phanar seinen Antrittsbesuch bei Patriarch Bartholomaios I. ab. Wegen der Restriktionsmaßnahmen im Hinblick auf die Corona-Pandemie war das bisher nicht möglich gewesen. Bei dem Treffen sprachen die beiden Patriarchen auch über die neuen Schwierigkeiten, die mit der militärischen Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan verbunden sind. Die Patriarchen drückten den gemeinsamen Wunsch aus, dass der Konflikts mit Gottes Hilfe schnell beigelegt werden kann. (Text:  www.kathpress.at)

Foto: Dr. Jasmine Dum-Tragut