Marie Jahoda

Biografie

*1907 Wien, †2001 Sussex, 1930-1931 Wien, 1937-45 London & Bristol, 1945-58 New York, 1958-65 London, 1965-2001 Sussex Sozialpsychologin, Pionierin der empirischen Sozialforschung. Hauptautorin der Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, die sozialwissenschaftliche Maßstäbe setzte. „[T]he problem in the human social sciences is to make invisible things visible. This means that all the original purposes and intentions of people involved in a situation are from the beginning assumed to be not the whole story.“ (Jahoda in Fryer 1986) „Die Themenwahl einer lebensnahen Sozialpsychologie stammt nicht von abstrakten Theorien, sondern aus der Problematik der Gegenwart. Sie sucht nicht nach zeitunabhängigen Antworten, sondern erkennt die Zeitgebundenheit sozialen Geschehens und menschlichen Verhaltens. Sie will nicht beweisen, sondern entdecken.“ (Jahoda 1994)

Fotocredit: AGSÖ

     Fotocredit: AGSÖ


Über Leben und Werk von Marie Jahoda

eine Würdigung anlässlich der feierlichen Benennung eines Hörsaales an der Universität Salzburg am 12. Juni 2024

Der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät und der Universität Salzburg ist zu gratulieren. Marie Jahoda hätte sich durch die Benennung eines Hörsaals nach ihr sehr geehrt gefühlt. Denn: dieser Akt würdigt sie als akademische Lehrerin.

Jahoda hat sich außerordentlich in der universitären Lehre engagiert. Dazu gehörte auch, bei der Einrichtung von Studienplänen neue Wege zu gehen. So hat sie in den 1960er Jahren am Brunel College of Advanced Technology südlich von London für das Grundstudium so genannte sandwich courses eingeführt. Das waren duale Studiengänge, in denen theoretische Ausbildung in Psychologie und Sozialforschung zu 50 Prozent mit Erfahrungen in externer Praxis integriert waren. Auch in der Sozialforschung plädierte sie für „geerdete“, lebensnahe Forschung. Eine solche nimmt ihre Themen aus der Problematik der Gegenwart. Sie sucht – so Jahoda wörtlich – nicht nach zeitunabhängigen Antworten, sondern erkennt die Zeitgebundenheit sozialen Geschehens und menschlichen Verhaltens. Bei ihrer späteren Berufung an die Universität Sussex war die pädagogische Innovation der dualen Studiengänge ebenso wie Haltung, nicht theoriegebundene, sondern stets gesellschaftlich relevante Forschung zu machen, etwas, was ihr in der dortigen Fakultät Aufmerksamkeit brachte.

Jahoda hätte auch die Tatsache außerordentlich geschätzt, dass sie im Rahmen dieser heutigen Feier von einer Schriftstellerin gewürdigt wird. Sie war in den 1920er Jahren Mitglied des Schriftstellerverbandes des sozialdemokratischen Roten Wien. Sie schrieb vor allem in ihren Jugendjahren Gedichte und Novellen, von denen nur wenige erhalten sind. Es gibt in ihren autobiografischen Dokumenten viele Hinweise, die die These nahelegen, dass Schriftstellerin und Lyrikerin zu sein, für Jahoda ein ungelebtes Leben war, ein Leben, das in ihrer bewegter und von historischen Brüchen gezeichneter Geschichte nur wenig Raum finden konnte.

Marie Jahoda wurde 1907 in Wien in ein assimiliertes jüdisches Elternhaus geboren. Der Vater Carl betrieb ein Geschäft für technische Papiere und Apparate. Die Mutter Betty arbeitete vorerst im Geschäft von Carl Jahoda als Buchhalterin, dann, als die Kinder kamen, im Haushalt.

In vielen Interviews sprach Jahoda davon, Glück gehabt zu haben, in Wien in einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der die großen Ideale der Sozialdemokratie das alltägliche Leben der Arbeiterfamilien und unteren Klassen tatsächlich veränderte. Sie und viele ihrer Freunde waren in diesen 1920er Jahren überzeugt, einer Generation zuzugehören, die die Welt verändern werde. Natürlich sei das eine Illusion gewesen, aber so betont sie, für sie sei es eine schöpferische Illusion gewesen. Sie habe ihr ein ethisches Glaubenssystem vermittelt und ein Vertrauen auf die Fähigkeit, eine bessere Zukunft gestalten zu können – Dinge, die vielen der heute jungen Generationen fehlen würden, so ihre rückblickende Einschätzung.

Nach der Matura beginnt Jahoda 1926 eine Ausbildung zur Volksschullehrerin und ein Studium der Psychologie an der Univ. Wien; beides beendet sie, promoviert wird sie 1933.

1927 heiratet sie den Mathematiker, späteren Sozialforscher und Soziologen Paul Lazarsfeld. 1930 bringt sie die Tochter Lotte zur Welt. Das Paar trennt sich bald danach, Lazarsfeld geht 1933 nach New York, 1934 wird die Ehe geschieden.

Die Jahre um 1930 sind eine dichte Zeit für die gut Zwanzigjährige: Geburt der Tochter, Schreiben der Dissertation, das Forschungsprojekt über das arbeitslose Dorf Marienthal, Trennung vom Ehemann Lazarsfeld und damit die Aufgabe, die Tochter Lotte alleine zu erziehen.

Die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal aus dem Jahr 1933 bringt Jahoda internationale Anerkennung. Ich darf annehmen, die Untersuchung und ihre historischen Umstände sind an diesem Ort wohl bekannt. Deshalb hier nur ein recht wenig bekanntes Detail: In ihrer Dissertation hat Jahoda neue Methoden zur Erhebung von lebensgeschichtlichen Daten im Feld entwickelt und damit wichtige Grundlagen für die Untersuchung in Marienthal geschaffen. Sie suchte um 1930/31 die Wiener Versorgungshäusern auf und führte mit dort lebenden Frauen und Männern offene biografische Interviews. In den Wiener Versorgungshäusern wurden mittellosen oder pflegebedürftigen Frauen und Männern eine soziale Grundversorgung geboten: Unterkunft, Kleidung, ärztliche Betreuung und falls erforderlich auch ein Taschengeld. Für die Sozialforschung in Europa war es neu, mittels dieser ethnografischen Methode empirische Daten zu erheben. Jahodas Vorgangsweise war nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftspolitisch eine Innovation. Damals wurden Angehörige der Arbeiterschaft von Gebildeten und Forschenden nicht für fähig gehalten, über sich und das eigene Leben Auskunft zu geben. Die soziale Distanz zwischen den arbeitenden und bürgerlichen Klassen war scharf, es dominierte die Vorstellung von den ungebildeten „Massen“.

Die lebensgeschichtliche Perspektive und die Bedeutung von subjektiver Erfahrung für das alltagspraktische Denken und Handeln der Menschen sind dann auch in die Marienthal-Studie eingeflossen. Vielleicht erinnern sich einige der Anwesenden an die unterschiedlichen Haltungstypen, die in der Studie dargestellt sind: Wie gingen Arbeiterfamilien mit den materiellen und sozialen Belastungen der Arbeitslosigkeit um? Es gab die ungebrochenen, resignierten, verzweifelten und die apathischen Haltungen in den Familien; oder denken wir an die Fähigkeiten mancher Familien, den restriktiven Lebensumständen der Arbeitslosigkeit einen Widerstand entgegenzusetzen. Diese Analysen beruhen auf biografischen Daten, die mittels der von Jahoda erprobten Methoden erhoben wurden.

Die frühen 1930er Jahre fordern Jahoda nicht nur wissenschaftlich und biografisch. Das gesellschaftliche und politische Umfeld ist im Umbruch: Mit der Errichtung der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur 1933/ 34 findet das Rote Wien und die Demokratie in Österreich ein abruptes Ende. Jahoda trifft diese Entwicklung sehr. Ein Lebensplan geht zu Bruch. Ihre Antwort ist eine politische. Sie beginnt, zwei Leben zu leben: ein öffentliches als Leiterin der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle und eines im Untergrund; sie unterstützt die die Revolutionären Sozialisten, die illegale Organisation der Sozialdemokraten, wird deswegen 1936 verhaftet, acht Monate inhaftiert und 1937 zu einer Kerkerstrafe verurteilt. Aus dem Gefängnis wurde sie nur unter der Bedingung entlassen, als Staatenlose nach England ins Exil zu gehen.

In dieser dramatischen Situation der Vertreibung aus ihrer Heimat muss sich Jahoda von ihrer Tochter trennen. Der Vater holt Lotte 1937 nach New York.

In England war Jahoda aktives Mitglied der sozialdemokratischen Exilorganisation. Sie stellte sich auch der britischen Regierung für Maßnahmen der psychologischen Kriegsführung zur Verfügung. 18 Monate leitete sie die Redaktion eines geheimen Rundfunksenders Radio Rotes Wien, der täglich in den Abendstunden Informationen nach Österreich ausstrahlte. Es ging darum, die Kriegsmoral der Deutschen Wehrmacht zu unterlaufen und den Widerstand zu stärken.

Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als freie Sozialwissenschaftlerin. Eines der Forschungsprojekte in diesen Jahren war die Feldstudie Arbeitslose bei der Arbeit. Es handelte sich um die Begleitforschung eines großen Sozialprojektes für langzeitarbeitslose Bergarbeiter in einem südwalisischen Tal. Quäker hatten dort ein genossenschaftliches Selbsthilfeprojekt organisiert. Die Arbeitslosen produzierten in Werkstätten und auf mehreren landwirtschaftlichen Grundstücken Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs. Heute kann die Untersuchung als historisches Beispiel kritisch-sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit aktiver Arbeitsmarktpolitik gelesen werden. Unter einem biografischen Gesichtspunkt zeigt die Studie, dass Jahoda auch unter widrigsten Umständen imstande war, methodisch anspruchsvolle und differenzierte Sozialforschung zu leisten.

Nach dem Krieg geht Jahoda in die USA, vor allem um die Tochter wiederzusehen.

Wiederum arbeitet sie die ersten Jahre als freie Sozialwissenschaftlerin. Sie ist unter der Leitung von Max Horkheimer an den international bekannten Studien über Vorurteile beteiligt, aus denen auch die Arbeit Adornos über den „Autoritären Charakter“ hervorgegangen ist. Marie Jahoda und der Psychoanalytiker Nathan Ackerman verfassten den Band 5 der Vorurteilsstudien mit dem Titel Antisemitism and emotional disorder.

1949 bekommt sie eine Stelle als Professorin für Sozialpsychologie an der New York University. Es ist dies für sie die erste akademische Festanstellung Auch in dieser Position bleibt ihre Forschung konkret und an realen gesellschaftlichen Problemen orientiert. Ein Beispiel: Anfang der 1950er Jahre entwickelte sich in den USA unter dem Eindruck des Kalten Krieges eine panische Angst vor kommunistischer Subversion durch heimische Intellektuelle, die der Sowjetunion zuarbeiten könnten. Wortführer bei der Verfolgung vermeintlicher Spione war Senator Joseph McCarthy. Im Namen der nationalen Sicherheit verdächtigte man vor allem Angehörige der Regierungsbehörden, Universitäten und kulturellen Institutionen. Jahoda war eine der wenigen aus dem Feld der Sozialwissenschaften, die es wagte, sich kritisch mit McCarthys Methoden zur Bekämpfung vermeintlicher kommunistischer Unterwanderung auseinanderzusetzen. Gemeinsam mit Stuart Cook wies sie in einer empirischen Studie nach, dass Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit ein geistiges Klima der Anpassung und Unterwürfigkeit geschaffen hatten und zu einer nachhaltigen Deformation der demokratischen Kultur zu führen drohten.

Marie Jahoda bricht wenige Jahre später ihre akademische Laufbahn in den USA wieder ab. Das ist unter karrieretechnischen Gesichtspunkten erstaunlich. Sie setzt jedoch andere Prioritäten für ihr Leben. 1958 heiratet sie den Labour-Politiker Austen Albu, den sie schon aus den Jahren des Krieges in London kennt, und kehrt nach Großbritannien zurück.

Wie eingangs erwähnt arbeitet sie zuerst in der Nähe von London an einem technischen College als Sozialpsychologin, dann wird sie Gründungs-Professorin wiederum für Sozialpsychologie an der Universität von Sussex in Südengland.

1973 emeritiert Jahoda, sie ist danach im Hinblick auf Forschung äußerst produktiv. Vier Buchprojekte, über 30 Beiträge für fachwissenschaftliche Zeitschriften und Sammelwerke sowie zahllose Rezensionen und Vorworte erscheinen in den Jahren danach. Ein Schwerpunkt ist dabei die psychosoziale Bedeutung von Erwerbsarbeit.

Im April 2001 stirbt Marie Jahoda im Alter von 94 Jahren.

Drei Jahre davor – 1998, Jahoda ist 91 Jahre alt – erscheint ihr letztes Buch: sie übersetzt Liebesgedichte der französischen Lyrikerin Louize Labé aus dem16. Jahrhundert ins Englische und gibt sie in drei Sprachen heraus, französisch, englisch und deutsch; die deutsche Fassung der Gedichte stammt von Rainer M. Rilke. Der Titel: Ach, meine Liebe, werft sie mir nicht vor.

Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler, 12. Juni 2024