Risse in der Zeitgeschichte
Vom 21. bis 23. April 2022 fand am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg der 14. Österreichische Zeitgeschichtetag statt. Der Österreichische Zeitgeschichtetag stellt die größte und wichtigste österreichische Konferenz von Zeithistoriker*innen aus dem In- und Ausland dar und fungiert als zentrale Plattform zur Präsentation und Diskussion neuester Forschungsergebnisse der österreichischen Zeitgeschichte im europäischen und internationalen Kontext. Zentrales Ziel ist der wissenschaftliche Austausch und die Vernetzung der Scientific Community, sowohl von etablierten Zeithistoriker*innen als auch von Nachwuchswissenschafter*innen. Durch Kooperationen mit Salzburger kulturellen und universitären Institutionen, öffentliche und digital zugängliche Begleitveranstaltungen und eine gezielte Medienarbeit wird der Zeitgeschichtetag auch in der Öffentlichkeit präsent sein.
Der Österreichische Zeitgeschichtetag, den es seit 1993 gibt, findet in der Regel alle zwei Jahre nach dem Rotationsprinzip an einem anderen Universitätsstandort in Österreich statt. Im Jahr 2022 war nach einer längeren Pause die Universität Salzburg Gastgeber*in dieser großen Fachtagung sein. Die inhaltliche Konzeption, Organisation und Durchführung liegt in den Händen der Abteilung Zeitgeschichte am Fachbereich Geschichte.
„Risse in der Zeitgeschichte“ – unter dieser Überschrift legte der 14. Österreichische Zeitgeschichtetag 2022 in Salzburg den Fokus auf politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und biographische Brüche, Kontinuitäten und Transformationen in der Zeitgeschichte. Krisen und ihre jeweiligen historischen Ursachen, politischen Vereinnahmungen und Nachwirkungen, aber auch ihre Überwindung und Bewältigung sind zentrale Themenfelder der Zeitgeschichte. In den Blick genommen werden daher auch Risse zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen im internationalen Kontext ebenso wie Risse innerhalb von Gesellschaften – zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, sozialen Klassen, politischen Lagern und zwischen den Geschlechtern.
Wir verstehen Zeitgeschichte als politische Orientierungswissenschaft. Sie beschäftigt sich zum einem mit historischen Ereignissen und ihren Auswirkungen auf unsere Gegenwart in Politik und Gesellschaft. Zum anderen versucht sie, gegenwärtige Phänomene in ihrer historischen Dimension zu erfassen und historische Erklärungsmuster dafür zu finden. Zeitgeschichte hat somit eine eminent gesellschaftspolitische Funktion und Relevanz. Der Anspruch der Zeitgeschichte als public history wurde am Zeitgeschichtetag 2022 in Salzburg durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen wie Populismus, politischem Extremismus, und gesellschaftlichen Polarisierungen besonders hervorgehoben werden.
Das inhaltliche Programm gliedert sich in drei Schwerpunkte:
In diesem Schwerpunkt wird die zeitliche Dimension der Zeitgeschichte inden Blick genommen. Es geht um historische Ereignisse und Phänomene,die zu teils massiven Erosionen in Politik und Gesellschaft führ(t)en, die in einer geschichtlichen Kontinuität stehen, aber im Laufe der Zeit auch Verände-rungen durchlaufen haben. Beiträge in diesem Bereich beschäftigen sich mit Zäsuren, Kontinuitäten und Transformationen im „Zeitalter der Extreme“ bis zur Gegenwart. Wie wirken Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, Rassismus, Antisemitismus, Antikommunismus usw. bis heute fort, inwiefern haben sie sich verändert undan neue Gegebenheiten angepasst? Die Panels setzen sich mit biographischen Kontinuitäten und Brüchen im 20.Jahrhundert bis zur Gegenwart ebenso auseinander wie mit (internationalenund europäischen) Epochenbrüchenund ihrer Relevanz für die österreichische Zeitgeschichte heute.
In diesem Schwerpunkt werden Beiträge gebündelt, die sich mit historischen und gegenwärtigen Krisen-Phänomenen und gesellschaftlicher Spaltungbeschäftigen. Konkret geht es um zerrissene Gesellschaften, politische Polarisierung sowie um Praktiken der Ungleichheit, die aus Forderungen nachgesellschaftlicher Homogenisierung und Abschottung resultieren können.Thematisiert werden sollen aber auch Konzepte zur Überwindung derartiger Spaltungen, insbesondere Demokratiekonzepte und unterschiedliche Formen von Widerstand und zivilem Engagement. Dieser Schwerpunkt beinhaltet Beiträge zu Fragen der Inklusion und Exklusion, zu politischem Extremismus und Populismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zu Antisemitismus und Islamfeindlichkeit sowie Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Auch Einreichungen zu gesellschaftlichen Spannungen im Kontextnationaler und globaler Entwicklungenwie Globalisierung, Migration und Klimakrisen sind hier vertreten.
In diesem Schwerpunkt geht es um Reflexionen über inhaltliche, methodische und didaktische Herausforderungen der Zeitgeschichte, um Fragen der Vermittlung, neue Forschungsansätze und Forschungsdesiderata. Zeitgeschichte im Sinne von public history ist immer auch Streitgeschichte – geradeim Kontext von Zensur- und Vereinnahmungsversuchen sowie Debattenum „cancel culture“. Von Interesse sind somit Beiträge zu Rissen durch das Fach, also Forschungskontroversen und damit einhergehenden Deutungskämpfen. Zudem bieten sich Fragen nach der Relevanz von historischen Zäsuren und Brüchen an. Sind der Nationalsozialismus und das Jahr 1945 nach wie vor entscheidende Referenzpunkte für die Zeitgeschichte oder gibt es diesbezüglich auch (sukzessive) Verschiebungen und Überlagerungen? Im Kontext von 100 Jahren Faschismuswerden hier auch unterschiedliche Zugänge der Faschismusforschung – nicht zuletzt mit Blick auf das Österreich der 1930er Jahre – berücksichtigt.