Aida Tuhcic
Kollektive Erfahrungsräume von Lehrpersonen im Prozess der Implementierung nationaler Kompetenzmessungen1
BILDUNGSPOLITISCHER HINTERGRUND
Blickt man auf zwei Jahrzehnte der Veränderungen und Entwicklungen im Bildungssystem zurück, so wird ersichtlich, dass die Lehrpersonen einige Reformveränderungen mitzutragen hatten. Angefangen hat es im Wesentlichen mit der PISA-Studie unmittelbar nach der Jahrtausendwende. Die Messung von Basiskompetenzen österreichischer Schüler bei der internationalen Vergleichsstudie haben nicht unbedingt zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Österreich lag knapp über dem Durchschnitt im Vergleich zu den anderen an der Studie teilnehmenden Staaten (OECD-Staaten). Dies und allgemeine gesellschaftliche Veränderungen riefen die Bildungsverantwortlichen zum Handeln auf: Infolge dessen wurden etliche Reformprozesse im Bildungssystem eingeleitet, ganz wesentlich war die Einführung der Bildungsstandards im Jahr 2009 mit denen die gewünschten Ergebnisse in den Kernfächern in Form von Kompetenzen beschrieben und anschließend (am Ende der 4. bzw. 8 Schulstufe) gemessen wurden. Die bildungspolitische Absicht dahinter: Die Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung von Schule und Unterricht mithilfe eines Überprüfungs- und Rückmeldesystems: Die BIST wurden gemessen, die Ergebnisse analysiert und an die Schulen rückgemeldet mit dem Ziel notwendige Reformprozesse in der Schule bzw. dem Unterricht einzuleiten.
Hat man den Implementierungsprozess von BIST in der Bildungspolitik als eine selbstverständliche Tätigkeit von Lehrkräften wahrgenommen, stellte man bereits nach wenigen Jahren Hindernisse bei der Berücksichtigung und Umsetzung des kompetenzorientierten Konzepts in der Schule im Allgemeinen sowie im Unterricht im Speziellen. Um mit Oelkers und Reusser (2008) zu sprechen, die bereits zu Gelingensbedingungen der Implementierung, aber auch zur Wirkungslosigkeit in Zusammenhang mit der Reform und ihrer Überprüfung, bemerkten: „Eine Implementation von Bildungsstandards, die nicht bis auf die Mikroebene des Unterrichts durchdringt und die, die Lehrpersonen und letztlich die Schülerinnen und Schüler als eigenständige Lernende nicht erreicht, wird nichts bewirken“ (Oelkers & Reusser, 2008, S. 399).
In Studien konnte aufgezeigt werden, dass von einer erfolgreichen Implementierung keine Rede sein kann. Allerdings handelt es sich bei den meisten bisher durchgeführten Untersuchungen vorwiegend um standardisierte Befragungen, welche die konkreten Erfahrungen mit den BIST kaum erhoben haben. Das bedeutet, dass zwar das explizite Wissen der Lehrenden und deren Einstellungen untersucht wurden. Das implizite Wissen hingegen wurde bislang noch nicht der Beforschung zugänglich gemacht.
Wie sich diese Befunde außerdem seit ihrer Einführung besser verstehen lassen und was sie für die Handlungspraxis der Lehrpersonen bedeuten, soll anhand eines neuen Zugangs zum Forschungsfeld erforscht werden. Dafür erscheint ein rekonstruktiver Zugang als eine angemessene Herangehensweise zu sein. In Österreich fehlen generell rekonstruktive Verfahren, welche die Implementierung der Bildungsstandards beforschen. Aus diesem Grund steht im Mittelpunkt meiner Untersuchung das professionelle Handeln von Lehrpersonen als Expertinnen und Experten in (schulischen) Organisationen. Hier werden die Subjektperspektive und Praxis von Lehrpersonen im Erfahrungskontext von Bildungsstandards bzw. IKM und iKM PLUS an österreichischen Schulen konsequent verfolgt.
In diesem Sinne lautet meine Forschungsfrage: Welche grundlegenden, konjunktiven Orientierungsmuster strukturieren die bildungsstandardbezogenen Handlungspraxen der Lehrpersonen an deren Schule?
ERHEBUNGSMETHODE: GRUPPENDISKUSSIONSVERFAHREN
Anders als bei Einzelinterview, schafft man sich durch das Gruppendiskussionsverfahren Zugriff auf das Kollektive: Es interessiert nicht die individuelle Haltung, sondern die kollektive Meinung. Lehrpersonen/(Professionelle) als Angehörige einer sozialen Organisation (hier Schule) haben in der Regel ähnliche Sichtweisen auf die sozial hergestellte Wirklichkeit. Diese werden durch Zugehörigkeit und geteilte Erfahrung kollektiv erworben und erweisen sich als relativ stabil.
AUSWERTUNGSMETHODE: DOKUMENTARISCHE METHODE NACH RALF BOHNSACK
Es geht um die Rekonstruktion von Wissen und Erfahrungen von Lehrpersonen im Umgang mit den Bildungsstandards und IKM, also um konjunktive Wissens- und Erfahrungsräume. Konjunktives Wissen kann als implizites Erfahrungswissen beschrieben werden. Dieses konjunktive Wissen erschließt sich nur, indem der dazugehörige (individuelle wie kollektive) Erfahrungsraum systematisch und methodologisch begründet in Beziehung gebracht wird. Für die Umsetzung der Zielstellungen in meiner Dissertation sollen die theoretisch, methodisch und methodologisch begründeten Grundlagen und Erfahrungen der dokumentarischen Methode angewendet werden, wie sie die Gruppe um Bohnsack in diversen empirischen Projekten erprobt und weiterentwickelt wurden.
1 Anmerkung: konkret handelt es sich um die Implementierung von Bildungsstandards und informeller bzw. individueller Kompetenzmessungen (IKM und IKMplus).